Der Basler Architekt Dominique Salathé plädiert dafür, dem Bau im Bestand wieder mehr Gewicht einzuräumen. Gebäude anzureissen, sei nicht nur ökologisch unsinnig, sondern bedeute auch einen Verlust an soziokultureller Identität.
Die Wertschätzung des Bestands müssen wir neu lernen. Das ist nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus soziokultureller Sicht sehr wichtig für uns als Gesellschaft.
Dominique Salathé, pro Jahr werden in der Schweiz mehrere Tausend Gebäude abgerissen und neu gebaut. Wie viele davon könnte man erhalten?
Dominique Salathé: In den meisten Fällen könnte man die Gebäude weiterverwenden. Man könnte sie umbauen und adaptieren, um-programmieren oder wenigstens als Materiallager nutzen. In der Schweiz werden pro Sekunde mehr als 500 Kilogramm Bauabfall produziert, weil so viel abgerissen wird. Das ist eine gigantische Verschwendung. Dabei gibt es keinen Zwang, Häuser abzureissen. Häuser haben kein Ablaufdatum.
Warum ist es trotzdem das klassische Vorgehen bei Bauprojekten?
Die grösste Herausforderung besteht darin, eine passgenaue Nutzung für ein bestehendes Gebäude zu finden, oder dieses mit ganz gezielten Eingriffen für eine neue Nutzung attraktiv zu machen. Wenn eine Bauherrschaft den Auftrag gibt, eine bestimmte Anzahl Wohnungen in einer definierten Grösse zu bauen, dann braucht es einen gewissen intellektuellen Mehraufwand, dies im Bestand zu adaptieren.
Es ist also schlicht einfacher, neu zu bauen?
Genau. Und dann kommt noch der wirtschaftliche Aspekt hinzu. Viele Investoren wollen so geringe Risiken wie möglich in ihren Immobilienportfolios. Und Bauen am Bestand birgt nun mal grössere Risiken als Bauen auf der grünen Wiese.
Welche Risiken sind das?
Es kann sich im Bau herausstellen, dass ein Gebäude schadstoffbelastet oder die Bausubstanz schlechter ist als erwartet, das sind die häufigsten Risiken. Weiter müssen eine Vielzahl von Vorschriften eingehalten und Normen respektiert werden auch das ist einfacher, wenn man ohne Einschränkungen vom Bestand planen und bauen kann. Die zunehmend digitalen Arbeitsmethoden unserer Bauwirtschaft sind heutzutage stark auf Standardisierung, Effizienz und Planbarkeit ausgerichtet. Wir wollen möglichst schon vor Baubeginn wissen, wie das fertige Gebäude im Detail aussehen wird. Beim Bauen im Bestand ist das nur begrenzt möglich, da sind oft unkonventionelle Lösungen gefragt.
Die Widerstände sind also nach wie vor gross.
Ja, aber es findet ein Sinneswandel statt. Viele Menschen haben inzwischen realisiert, dass wir sorgfältig mit unseren Ressourcen umgehen müssen und weniger Schadstoffe produzieren dürfen. Und Sanierungen sind nun einmal wesentlich klima- und ressourcenschonender als Neubauten. Aber es geht auch um eine Haltung. Wir müssen wieder lernen, etwas Bestehendes als wertvoll und schützenswert zu erachten.
Heute herrscht in den Konsumgesellschaften eine Wegwerfmentalität.
Dort gilt es anzusetzen. In Japan kennt man im Keramikhandwerk die sogenannte Kintsugi-Technik, bei der ein Stück wertvoller wird, nachdem es repariert worden ist. Die Spuren der Reparatur werden sogar sichtbar gemacht, weil sie kein Makel sind, sondern eine Besonderheit. Das kann für Gebäude genauso gelten, wenn wir wieder lernen, die Dinge anders zu betrachten.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Ich erinnere mich an die ehemalige Rennbahnklinik in Muttenz, die wir vor einigen Jahren in Studierendenwohnungen umgebaut haben. Das Gebäude hat vorne eine etwas seltsame Form, eine Art Abtreppung, und auf den ersten Blick konnte man sich nicht vorstellen, dass Wohnungen auf diesem Grundriss funktionieren können. Am Ende waren die Wohnungen in diesem vorderen Teil die spannendsten Räume im ganzen Gebäude. Wir haben also eine Qualität entdeckt, die wir nicht erwartet hatten, auch weil sie nicht unserem klassischen Schönheitsbegriff entsprach. Darauf müssen wir uns einlassen.
Historisch betrachtet ist es ja eigentlich normal, dass der Bestand weiterentwickelt wird.
Ja, die Tabula-Rasa-Mentalität ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Früher war es selbstverständlich, die Bausubstanz zu erhalten und weiterzuverwenden. Aus den Steinen des Amphitheaters wurden dann beispielsweise Wohnhäuser gemacht. Diese Wertschätzung des Bestands müssen wir neu lernen. Das ist nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus soziokultureller Sicht sehr wichtig für uns als Gesellschaft.
Warum?
Weil wir mit unserer gebauten Umwelt auch Identität stiften. Ein grosser Vorteil des Bestands ist ja, dass er spezifische Qualitäten hat, die zu seiner Umwelt gehören. In Basel sehen die Häuser anders aus als in Biel oder in Genf, weil sie das Produkt regionaler Wertschöpfungsketten sind. Aus meiner Sicht ist das eine der Qualitäten der Schweiz, dass auf so engem Raum so viele unterschiedliche Baukulturen sichtbar sind. Das hat einen grossen Wert, denn in der Baukultur geht es nicht nur um die Gebäude selbst, sondern auch um die Frage, wie Menschen in diesen Gebäuden wohnen, wie sie leben und interagieren – welche Geschichten in diesen Gebäuden stecken. Ich verwende dafür den Begriff der intellektuellen grauen Energie, die in den Gebäuden steckt. Diese gilt es genauso zu erhalten wie die graue Energie in Form von fossilen Brennstoffen und Treibhausgasemissionen.
Welche Rolle spielen Sie als Architektinnen und Architekten in diesem Prozess?
Wir sind mitverantwortlich dafür, dass dieser Sinneswandel stattfindet. Ich sehe darin eine grosse Chance für unseren Berufs-stand. Denn Bauen im Bestand bedeutet auch ein grosses Mass an Freiheit. Es gibt uns die Möglichkeit, aus dem an Normen und Benchmarks orientierten Dienstleistungsmodus auszubrechen und wieder mehr Verantwortung zu übernehmen. Es macht unseren Beruf sicher spannender und sinnhafter, wenn wir die gesellschaftliche Dimension wieder stärker in den Vordergrund rücken.
Inwiefern verändert das Ihre Arbeit?
Wir müssen uns beim Bauen im Bestand schon viel früher viel intensiver mit dem Gebäude und seinen Nutzenden auseinandersetzen. Und der Entwurfsprozess endet nicht mehr in den frühen Projektphasen, sondern verlängert sich bis auf die Baustelle.
Das Bauen selbst wird wieder zur Architektur.
Genau. Und im Zentrum steht die Frage, wie wir ein Gebäude glücklich machen können. Nicht umgekehrt.