Nur wenn man weiss, wie Dinge funktionieren, kann man sie auch verändern. Diese Erkenntnis treibt Nora Dainton schon seit Kindsbeinen an. Als Professorin für Virtual Design and Construction (VDC) an der Fachhochschule Nordwestschweiz geht sie heute dem Schnittbereich zwischen Technik und Mensch auf den Grund.
Das Institut für Digitales Bauen an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz ist mit Jahrgang 2017 nicht bloss das jüngste, sondern auch ein besonders dynamisches. Das erstaunt nicht. Die Digitalisierung im Bauwesen geht mit atemberaubender Geschwindigkeit voran. Während die Tools dabei laufend perfektioniert werden, wird ein Aspekt bislang aber eher stiefmütterlich behandelt: die Zusammenarbeit. «Oft beziehen Projektbeteiligte andere nicht mit ein oder berücksichtigen unterschiedliche Perspektiven in Bezug auf ein Bauprojekt nicht», sagt Nora Dainton.
Genau hier setzt das Framework Virtual Design and Construction (VDC) an. «Das Mindset von VDC fördert die integrale Zusammenarbeit über den ganzen Zyklus eines Bauprojekts», erklärt Dainton. «Das zahlt sich aus.» Mit einem Masterstudiengang in Virtual Design and Construction betritt die 44-Jährige Neuland, denn etwas Vergleichbares gibt es nirgends in der Schweiz. Doch genau diese Herausforderung, an etwas Neuem beteiligt zu sein, mochte sie schon immer.
Nora Dainton kommt 1979 in Greifensee zur Welt. Ihr Vater, einst als tschechischer Flüchtling in der Schweiz gelandet, ist Astrophysiker, ihre Mutter Hauswirtschaftslehrerin. Die beiden bauen zusammen eine Softwarefirma auf. Nora ist bereits Digital Native, als es den Begriff noch gar nicht gibt, denn zu Hause stehen immer Computer herum. Digitalisierung gehört zum Familienalltag.
Nora ist ein kreatives Kind. Das liegt auch an ihrer Neugier. Sie muss ganz einfach wissen, wie die Dinge funktionieren. «Wenn man das weiss», sagt sie heute, «kann man auch etwas ändern.» Ihre Eltern schicken sie deshalb ans Liceo Artistico nach Zürich, damals ein neues öffentliches Gymnasium für Bildende Kunst. Danach entscheidet sie sich für ein Studium in Industrial Design.
Doch zuerst nimmt sich Nora, die damals noch Jencik heisst, eine Auszeit. Sie reist – wie einst ihre Mutter – ein Jahr lang durch Zentral- und Südamerika. Zurück in der Schweiz beginnt sie an der Fachhochschule Aargau in Aarau ein vierjähriges Studium als Industriedesignerin, das damals erst seit kurzem angeboten wird. Auch das passt, denn alles, was neu ist, fasziniert sie. Einen Teil des Studiums macht sie in London, wo sie ihren zukünftigen Mann kennenlernt.
Da sie nach dem Abschluss ihres Studiums nicht gleich einen passenden Job findet, macht sie sich kurzerhand selbstständig. Sie arbeitet als Gestalterin und Fotografin und beginnt, zu unterrichten. «Ich wollte schon früh Richtung Wissensvermittlung», erzählt sie. Und so packt sie die Chance, als ihr am Liceo eine Stellvertretung angeboten wird. Als weitere Lehraufträge – unter anderem an der Klubschule Migros – folgen, holt sie sich das nötige Rüstzeug und macht eine Ausbildung zur Erwachsenenbildnerin.
Als bei ihr allmählich das Gefühl von Routine aufkommt, besinnt sie sich auf ihre Wurzeln als Industriedesignerin und sucht eine Herausforderung auf Hochschulstufe. Sie bewirbt sich in Basel für einen völlig neuen Masterstudiengang, den sie allerdings um ein Jahr aufschiebt, da Nachwuchs unterwegs ist. Den Master of Arts in Design holt sie sich mit der Arbeit «Teaching Design», in der sie sich mit einem Thema auseinandersetzt, das sie künftig beschäftigen wird: Wie vermittelt man Wissen? Zwei Wochen nach Abschluss des Studiums kommt ihr zweites Kind zur Welt.
Nora Dainton bleibt dem Institut Industrial Design der FHNW erhalten. Nicht nur als Dozentin, sondern auch im Ressort Qualitätsmanagement der Hochschule für Gestaltung und Kunst. Die Kombination von Lehre und Managementaufgaben gefällt ihr ausgesprochen gut. So entscheidet sie sich für eine weitere Ausbildung und macht ein CAS im Bereich Führen an Hochschulen. Diese kommt genau im richtigen Moment. Denn bald darauf stösst sie auf eine Stellenausschreibung, die exakt das beinhaltet, was sie herausfordert und reizt: Die Fachhochschule Nordwestschweiz sucht eine Projektleitung für die Lancierung eines neuen Masterstudiengangs: Virtual Design and Construction (VDC).
Sie bekommt den Job und entwickelt mit ihrem Team den völlig neuen Studiengang. «Dieser befindet sich im Schnittbereich zwischen Technik und Mensch», sagt Nora Dainton, «etwas, das es in dieser Form noch nirgends gab – das hat mich gereizt.» Schliesslich bewirbt sie sich auch noch erfolgreich um die Stelle als Professorin und Studiengangleiterin des Masters in VDC. Doch worum geht es denn eigentlich dabei?
«Bei Virtual Design and Construction steht die integrale Kooperation aller Akteurinnen und Akteure an einem Bau- oder Immobilienprojekt im Zentrum», erklärt Nora Dainton. Während beispielsweise BIM als digitales Tool einfach ein 3D-Modell mit Zusatzinformationen darstelle, umfasse das VDC-Framework auch soziale und organisatorische Aspekte. «Psychologie auf der Baustelle ist wichtig», sagt sie. «Auch deshalb ist unsere Zusammenarbeit mit der Hochschule für Angewandte Psychologie von Bedeutung.»
Denn gerade durch die mangelhafte Kommunikation und Kooperation würden der Baubranche enorme Verluste entstehen. «Unser Auftrag ist es, hier einen Mehrwert zu schaffen», sagt die Professorin. «Wir brauchen mehr Generalistinnen und Generalisten, die Verständnis haben für Technik, Interdisziplinarität und Soziales – VDC-Spezialistinnen und -Spezialisten eben.»
Im Frühling 2023 haben die ersten Absolventinnen und Absolventen den Studiengang abgeschlossen. Sehr zur Zufriedenheit von Nora Dainton. «Was wir uns gewünscht haben, ist eingetroffen, aber es gibt noch viel zu tun und viel zu lernen», sagt sie mit einem Lächeln. Zum Glück liebt sie Herausforderungen.