Eine überraschende Einladung nach Paris gibt der Geschichte von Schindler eine entscheidende Wende. Innerhalb von 150 Jahren entwickelt sich die Werkstätte für Obstpressen und Mähmaschinen zu einem Unternehmen, das weltweit tagtäglich zwei Milliarden Menschen bewegt.
Robert Schindler kneift sich mehrere Male in den Arm. Nein, es ist definitiv kein Traum, es ist Realität. Er befindet sich tatsächlich in der Galerie des Machines in Paris. Mit seinem Geschäftspartner nimmt er dort an der Weltausstellung teil. Wir schreiben das Jahr 1878.
Die beiden Unternehmer hatten 1874 die Firma Schindler & Villiger in Luzern gegründet. Acht Mitarbeitende zählt die Werkstätte zu Beginn, sie ist spezialisiert auf «Maschinen und Geräthe». Haferquetschmühle, Mähmaschine, Obstpresse. Die Produktpalette, die den Besucherinnen und Besuchern der Weltausstellung in Paris präsentiert wird, gibt wenig Hinweise darauf, dass sich die junge Firma in den kommenden 150 Jahren zu einem der führenden Anbieter in der Aufzugs- und Fahrtreppenindustrie entwickeln wird. Der Besuch der Weltausstellung ist ein riesiger Erfolg für die junge Firma. Und doch bedeutet Paris 1878 den Anfang vom Ende der Partnerschaft zwischen den Firmeneigentümern und beeinflusst entscheidend, wie sich die Werkstätte zum heutigen Weltkonzern Schindler entwickelt.
Als Robert Schindler nämlich in einer Pause durch die Weltausstellung schlendert, entdeckt er einen riesigen Aufzug, der Personen in eine Höhe von 62 Metern befördern kann. Vor seinem geistigen Auge sieht er bereits, wie in der geplanten 300 Quadratmeter grossen Fabrik in der Luzerner Sentimatt Aufzüge produziert werden. Immer wieder hat er in den vergangenen Monaten mit Villiger über eine Neuausrichtung der Firma diskutiert. Die Landwirtschaft war ihm schlicht zu wenig attraktiv. Er möchte die die Firma viel lieber auf die Bedürfnisse der benachbarten Industriebetriebe ausrichten. In Luzern und Umgebung gibt es namhafte Unternehmen, die stark wachsen. Auf dem Vierwaldstättersee sind bereits erste Passagierdampfer im Einsatz, die Eisenbahnlinie Luzern–Basel funktioniert einwandfrei und die Hotellerie am Luzerner Seebecken boomt. Schindler sieht das Potenzial. Die Mobilität von Menschen und der Transport von Gütern in Gebäuden und Städten fasziniert ihn. Bis jetzt fehlte ihm aber das richtige Produkt. In Paris weiss er: «Aufzüge, das ist es!».
Die strategische Ausrichtung führt zum Zwist zwischen den zwei Firmengründern. 1889 wird Robert Schindler Alleineigentümer der Firma. Trotz der Trennung kommt es nicht zu einem Bruch der beiden Expartner.Sein Unternehmen aber, das richtet Schindler ganz nach seinem Gusto aus. Die Produktion in der Sentimatt wird auf Aufzugsanlagen fokussiert. Schon 1890 wird der erste hydraulische Aufzug ausgeliefert, 1892 folgt der erste elektrische Aufzug mit Riemenantrieb.
Die mangelnde Expertise macht das Unternehmen dadurch wett, dass es den Unterhalt von Aufzügen übernimmt, die ausländische Firmen installiert haben. Geschäftsmann Schindler erkennt, dass das Servicegeschäft ein existenzieller Teil seines Geschäftsmodells ist. Das ist noch heute so. Bei jedem verkauften Aufzug ist es das Ziel von Schindler, ihn auch ins eigene Serviceportfolio zu übernehmen, und so die Qualität und Sicherheit der Anlage zu gewährleisten. Die Servicetechnikteams kontrollieren alles – vom Schacht über die Kabine bis hin zur gesamten Technik. Die Wahrscheinlichkeit einer Störung wird reduziert, gleichzeitig verlängert ein regelmässiger Service die Lebensdauer eines Lifts massiv. Auch montiert das Schindler-Personal zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Auftrag Fremdanlagen. Als zuverlässige und innovative Werkstätte wird Schindler zügig zur Anlaufstelle Nummer eins bei den Zentralschweizer Hoteliers. Ab dann geht es mit Schindler Etage um Etage nach oben. 1901 folgt der Verkauf an die zweite Generation. Heute ist bereits die fünfte Generation in verschiedenen Funktionen für Schindler tätig.
1906 wird in Berlin die erste Vertretung im Ausland gegründet. Bis heute folgen über 100 weitere Länder. 1980 gründet Schindler gar als erstes westliches Unternehmen ein Joint Venture in der Volksrepublik China. Ab 2012 investiert das Unternehmen stark in die Produktion für den asiatischen Markt. In China und Indien entstehen Produktionsstätten für Aufzüge und Fahrtreppen. Der Campus in Shanghai ist so gross wie 50 Fussballfelder. Die Urbanisierung spielt Schindler in die Karten. Städte wachsen in die Höhe. Der Aufzug verändert die Perspektive: Plötzlich ist der begehrenswerteste Platz nicht mehr zuunterst, sondern zuoberst in Gebäuden. Auch die Schweiz wird erschlossen. 1957 zieht das Unternehmen nach Ebikon in die «modernste Aufzugsfabrik der Welt». Der Hauptsitz des Unternehmens befindet sich bis heute im Luzerner Rontal. 2019 bezieht Schindler den neuen Schindler Campus. Es entsteht ein attraktiver Arbeitsort für gut 2000 Mitarbeitende.
1974 feiert Schindler das 100-jährige Bestehen der Firma. 30 000 Besucherinnen und Besucher strömen am Tag der offenen Tür nach Ebikon. Heute leitet Erich Thoma die gesamte Schweizer Feldorganisation des Unternehmens – 13 Niederlassungen mit gut 1400 Mitarbeitenden. Auch verantwortet er das 150-Jahr-Jubiläum mit all seinen Aktivitäten.Im Jubiläumsjahr feiert Schindler nicht nur das Vergangene. «Wir blicken dankbar auf das Erreichte zurück. Wir richten unsere Augen aber vor allem nach vorne, auf die Zukunft von Schindler», betont Thoma. Die 150-jährige Geschichte sei eine gute Basis, auf der die Zukunft weitergebaut werden kann. «Wir können von den Erfahrungen aus der Vergangenheit profitieren und das Geschäft von morgen vorwärtstreiben », sagt Thoma. Denn es sei auch in der Vergangenheit um Qualität, Sicherheit und Innovation gegangen. Vor allem aber um die Menschen, die Schindler mit seinen Produkten bewegt – rund zwei Milliarden täglich auf der ganzen Welt. Eine Entwicklung, die sich sogar der visionäre Robert Schindler nie hätte träumen lassen.